15.10.2019, 14:06
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 15.10.2019, 14:12 von Fredeswind.)
Wir erreichten es sechs Uhr früh. Ein Fiacre führte mich über Brücken und Plätze, an einem prächtigen Kai hin, von einem Bahnhof zu dem andern. Nur eine halbe Stunde Rast! Nun begann ein Fahren Tag und Nacht. Am Nachmittag in Toulouse, am Abend in Cette. Eine weite Wasserfläche dehnte sich zur Rechten…:
„Was ist das?"
„Das Mittelländische Meer."
Weiter Montpellier, Nimes, Tarascon. Hier gingen wir auf die Marseiller Linie über. Am Morgen in Lyon. Lyon hat acht Bahnhöfe.
„Ou est la gare de Genève?" (Wo ist der Genfer Bahnhof)
„C‘est ici, voilà." (Hier, da ist er)
„A quelle heur part le train?" (Wann fährt der nächste Zug ab?)
„A présent. Dans cinq minutes. Dépechez vous!" (Gleich in fünf Minuten, beeilen Sie sich!)
Im Fluge löste ich mein Billett. Und weiter rasselte der Zug auf Genf zu.
Nur noch zwanzig Meilen bis zur Grenze! Mir begann das Herz höher zu schlagen. Wie hatte ich die anderthalb Tage seit Angouléme zugebracht? Getreulich nach der Weisung meines Beraters. Die Augen geschlossen oder in ein Zeitungsblatt vertieft, so hatt ich die langen Stunden über dagesessen. Auch in der Nacht war kein Schlaf über mich gekommen. Was geht in solchen Stunden in einer Menschenseele vor? Womit tötet man die Zeit hinweg?... Das Auge ist tot...; die Bilder fallen auf die Netzhaut, aber der Nerv, der uns das Bild zum Bewusstsein bringen soll, versagt seinen Dienst. Und wie keine Bilder zu uns sprechen, so sprechen auch keine Gedanken in uns. Schemen, ein geistlos-geisterhaftes Wesen, ein fieberhaft durch das Hirn gehetztes Nichts; ein Stunden- und Minutenzählen. Immer dieselbe Frage: wie weit noch, wieviel Meilen noch?…
Nun waren wir in den Jura hinein; die Wälder bereift, die Häupter tief im Schnee. Ein Sturm pfiff, aber gleichviel, es ging vorwärts. Das war Bellegarde. Die letzte französische Schildwacht, den Kopf in der Kapuze, sah von der Felsenbrücke hoch oben auf unseren ihm mutmaßlich wie Spielzeug erscheinenden Zug hernieder. Fünf Minuten später rasselten wir an einem mit Holzbalkonen geschmückten Hause vorüber, das die Inschrift trug: „Café Guillaume Tell.“ Also Schweiz! Die ‚Bise‘ (Nord- oder Nordostwind) wehte von den Bergen her.
Die Maschine keuchte, unter einem hohen Gebraus fuhren wir in die Bahnhofshalle ein. „Victoria-Hotel“ Ich wählte es mit gutem Vorbedacht. Ein Blick des Oberkellners auf meine Rochefort-Reisetasche (wie hätte erst Rasumofskys Schöpfung gewirkt) verurteilte mich zu drei Treppen. Als ich in den kleinen Raum eintrat, sang neben mireine Pensions-Engländerin die Gnadenarie. (Anmerkung der Redaktion: aus der Oper ‚Robert der Teufel‘ von Giacomo Meyerbeer)
An dem schlecht eingehakten Fenster rüttelte und rasselte der Sturm. Gleichviel. Ich warf die Reisetasche in die Ecke, mich selber aufs Sofa, kreuzte die Hände über der Brust, atmete hoch auf und sagte das eine Wort:
„FREI!"
ENDE
„Was ist das?"
„Das Mittelländische Meer."
Weiter Montpellier, Nimes, Tarascon. Hier gingen wir auf die Marseiller Linie über. Am Morgen in Lyon. Lyon hat acht Bahnhöfe.
„Ou est la gare de Genève?" (Wo ist der Genfer Bahnhof)
„C‘est ici, voilà." (Hier, da ist er)
„A quelle heur part le train?" (Wann fährt der nächste Zug ab?)
„A présent. Dans cinq minutes. Dépechez vous!" (Gleich in fünf Minuten, beeilen Sie sich!)
Im Fluge löste ich mein Billett. Und weiter rasselte der Zug auf Genf zu.
Nur noch zwanzig Meilen bis zur Grenze! Mir begann das Herz höher zu schlagen. Wie hatte ich die anderthalb Tage seit Angouléme zugebracht? Getreulich nach der Weisung meines Beraters. Die Augen geschlossen oder in ein Zeitungsblatt vertieft, so hatt ich die langen Stunden über dagesessen. Auch in der Nacht war kein Schlaf über mich gekommen. Was geht in solchen Stunden in einer Menschenseele vor? Womit tötet man die Zeit hinweg?... Das Auge ist tot...; die Bilder fallen auf die Netzhaut, aber der Nerv, der uns das Bild zum Bewusstsein bringen soll, versagt seinen Dienst. Und wie keine Bilder zu uns sprechen, so sprechen auch keine Gedanken in uns. Schemen, ein geistlos-geisterhaftes Wesen, ein fieberhaft durch das Hirn gehetztes Nichts; ein Stunden- und Minutenzählen. Immer dieselbe Frage: wie weit noch, wieviel Meilen noch?…
Nun waren wir in den Jura hinein; die Wälder bereift, die Häupter tief im Schnee. Ein Sturm pfiff, aber gleichviel, es ging vorwärts. Das war Bellegarde. Die letzte französische Schildwacht, den Kopf in der Kapuze, sah von der Felsenbrücke hoch oben auf unseren ihm mutmaßlich wie Spielzeug erscheinenden Zug hernieder. Fünf Minuten später rasselten wir an einem mit Holzbalkonen geschmückten Hause vorüber, das die Inschrift trug: „Café Guillaume Tell.“ Also Schweiz! Die ‚Bise‘ (Nord- oder Nordostwind) wehte von den Bergen her.
Die Maschine keuchte, unter einem hohen Gebraus fuhren wir in die Bahnhofshalle ein. „Victoria-Hotel“ Ich wählte es mit gutem Vorbedacht. Ein Blick des Oberkellners auf meine Rochefort-Reisetasche (wie hätte erst Rasumofskys Schöpfung gewirkt) verurteilte mich zu drei Treppen. Als ich in den kleinen Raum eintrat, sang neben mireine Pensions-Engländerin die Gnadenarie. (Anmerkung der Redaktion: aus der Oper ‚Robert der Teufel‘ von Giacomo Meyerbeer)
An dem schlecht eingehakten Fenster rüttelte und rasselte der Sturm. Gleichviel. Ich warf die Reisetasche in die Ecke, mich selber aufs Sofa, kreuzte die Hände über der Brust, atmete hoch auf und sagte das eine Wort:
„FREI!"
ENDE
Fredeswind Märchenschatztruhe
Inhalt Fredeswinds Märchenschatztruhe
"Wir meinen, das Märchen und das Spiel gehöre zur Kindheit: wir Kurzsichtigen! Als ob wir in irgendeinem Lebensalter ohne Märchen und Spiel leben möchten!"
Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844 - 1900)
Inhalt Fredeswinds Märchenschatztruhe
"Wir meinen, das Märchen und das Spiel gehöre zur Kindheit: wir Kurzsichtigen! Als ob wir in irgendeinem Lebensalter ohne Märchen und Spiel leben möchten!"
Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844 - 1900)