01.05.2020, 09:07
Die dritte Kiste
Noch lange saßen sie da und redeten. Aber es war ein langer Tag gewesen und Lucie spürte die Müdigkeit, die kam und sie umgarnte.
„Es ist Zeit für mich, ins Hotel zu gehen.“ Beendete sie ihre lebhaften Gespräche der letzten Stunden.
„Ich werde Dich begleiten.“ Als sie aufstehen und sich umblicken, merken sie, wie leer der Raum inzwischen geworden ist. Der Wirt putzt bereits den Tresen. Ja es ist Zeit, diesen Ort zu verlassen.
Langsam gehen sie zum Hotel hinüber. Es ist schon dunkel drinnen und eine Frau im Nachthemd kommt mit einer Kerze angewankt, um ihnen die Schlüssel zu geben und die Zimmer zu zeigen.
Lucie ging in den ihr geöffneten Raum, entzündete die Öllampe und machte sich bereit, schlafen zu gehen. Es war ein gemütliches kleines Zimmer. Ein Bett, ein Stuhl, ein Tisch, eine Lampe, ihre Kiste.
Letztere öffnete sie und suchte sich alles heraus, was sie brauchte und schloss sie wieder sorgsam zu. Dann begab sie sich ins Bett und löschte das Licht wieder.
Auch Danteslav ging in sein Zimmer. Es ähnelte dem Lucies.
Und auch der Vampir ging zu seiner Kiste, holte einige Bücher daraus hervor und befreite sie von dem Schmutzt, der an ihnen klebte. In der Kiste mochte es Erde aus seiner Heimat sein. Aber wenn es an seinen Büchern klebte, war es Schmutz. Die gesäuberten Bücher legte er auf den Tisch und setzte sich auf den Stuhl. Jedes dieser Bücher war ihm heilig. Sie enthielten Wissen und Magie… und Macht. Vielleicht einen Schlüssel dazu, wieder ein Mensch zu sein, oder eine Formel um unsterblich zu sein und trotzdem in der Sonnen wandeln zu können. Er hatte die Bücher aus dem Schloss mitgenommen. Seinem Bruder hatten sie nichts bedeutet und trotzdem hatte er es ihm immer wieder untersagt, sie zu lesen. Aber nun hatte er die Bücher und sein Bruder war weit fort. Es war an der Zeit hinter die Geheimnisse der Welt zu kommen. Er verschlang förmlich jede Seite und sein Hunger darauf war größer als der nach Blut.
Ein Geheimnis hatte er den Büchern jedoch schon in der alten Heimat entlockt. Er ging noch einmal zu seiner Kiste und wühlte in der weichen Erde bis er zwei bleiche Knochen daraus hervor holte. Diese legte er zu seinen Büchern auf den Tisch, zündete eine Kerze an und murmelte etwas darüber. Kurz darauf erschienen zwei Gestalten in einer Ecke des Raumes. Eine bleiche Frau in einem weißen Schleier und ein ebenso fahler Mann mit einem Turban. Die beiden Knochen waren ein Geschenk des Grafen Dracula an seinen Bruder gewesen. Er selbst hatte die beiden Osmanen dereinst bei der Verteidigung seiner Ländereien getötet. Wie wollte Danteslav gar nicht wissen. Aber nun gehörten die dienstbaren Geister Fatimas und Achmets ihm. Fatima begann damit seine Kleidung in Ordnung zu bringen und das Bett so aussehen zu lassen, als hätte jemand darin geschlafen. Achmet reichte seinem Herren die Bücher, kümmerte sich um das Licht und wartete auf weitere Befehle. Sie waren die perfekten Diener, da sie nicht bezahlt werden mussten, nichts aßen, er sie jeder Zeit verschwinden lassen konnte und sie niemandem seine Geheimnisse verraten konnten.
Danteslav achtete gar nicht auf die beiden. Für ihn gehörten sie seit vielen Jahren gewissermaßen zum Inventar. Hin und wieder murmelte er etwas vor sich hin, während er weiterlas. Nur manchmal unterbrach er einen Augenblick, um aus dem Fenster zu sehen ob die Nacht sich dem Ende zuneigte. In einem Buch aus dem Jüdischen hatte er etwas über die Erschaffung eines Golems gelesen, dass ihn gerade faszinierte. Und dann sah Danteslav das erste bleierne Grau am östlichen Horizont. Zu spät. Er stecke die Bücher wieder vorsichtig in die Kiste zurück, ebenso die beiden Knochen, löschte die Kerze und ließ die beiden Geister wieder einschlafen. Er war so müde. Noch einen Tag in der Kutsche würde er nicht durchstehen. Schnell griff er zu Papier und Feder und begann eine Nachricht zu schreiben.
Mit dieser beeilte er sich, zum Kutscher zu kommen. Jener hatte noch geschlafen, als Orlok an seine Tür hämmerte.
„Hier haben Sie noch ein Goldstück. Sorgen Sie dafür, dass die Kiste wieder auf der Kutsche landet. Ich muss noch etwas erledigen und stoße später wieder zu ihnen. Hüten Sie die Kiste wie ihren Augapfel! Und geben Sie dieses Schreiben Mrs. Carpek.“ Fügte er hinzu und überreichte dem verschlafenen Kutscher sowohl das gefaltete und gesiegelte Stück Papier, wie auch eine weitere Goldmünze.
Der Kutscher lächelte, versprach alles zufriedenstellend zu erledigen und schloss wieder die Tür. „Seltsame Europäer“ murmelte er, als die Tür geschlossen war. Aber er hatte schon schlimmere Fahrgäste gehabt. Ganz zu schweigen von den Banditen, die immer wieder die Kutsche überfielen. Dann lieber ein paar exzentrische Europäer. Und von dem Gold konnte er sich bald zur Ruhe setzen.
Orlok beeilte sich, zurück in sein Zimmer zu kommen. Er öffnete die Kiste, seufzte tief und stieg hinein. Er legte sich hin, zusammengekauert wie ein kleines Nagetier und verschloss von innen die Kiste.
Kurze Zeit später erwachte Lucie und blickte sich um, bis sie zuordnen konnte, wo sie am letzten Abend eingeschlafen war.
Ja, es war ein Hotelzimmer in einem kleinen Ort namens Beavertown irgendwo auf der Postkutschenrute Richtung Westküste. Achja und nebenan schlief der charmanteste Mann, dem sie seit vielen Jahren begegnet war. Lucie lächelte und begann den neuen Tag und mit ihm das neue Jahr. Und wie jeden Tag in den letzten 50 Jahren begann sie ihren Tag am liebsten mit einem Frühstück. Also kleidete sie sich an und ging nach unten. Die immer noch sehr unausgeschlafene Besitzerin des Hotels entschuldigte sich und bat sie, drüben im Saloon zu essen, da es hier nur die Schlafmöglichkeiten gäbe.