11.02.2021, 10:11
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 11.02.2021, 10:17 von Fredeswind.)
Auf die Sonnenblumen, die vor Marens Kammer im Garten standen, fiel eben der erste Morgenstrahl, als sie schon das Fenster aufstieß und ihren Kopf in die frische Luft hinausstreckte. Der Wiesenbauer, welcher nebenan im Alkoven des Wohnzimmers schlief, musste davon erwacht sein; denn sein Schnarchen, das noch eben durch alle Wände drang, hatte plötzlich aufgehört. „Was treibst du, Maren?“, rief er mit schläfriger Stimme. „Fehlt's dir denn wo?“
Das Mädchen fuhr sich mit dem Finger an die Lippen; denn sie wusste wohl, dass der Vater, wenn er ihr Vorhaben erführe, sie nicht aus dem Hause lassen würde. Aber sie fasste sich schnell. „Ich habe nicht schlafen können, Vater“, rief sie zurück, „ich will mit den Leuten auf die Wiese; es ist so hübsch frisch heute morgen.“ „Hast das nicht nötig, Maren“, erwiderte der Bauer, „meine Tochter ist kein Dienstbot.“ Und nach einer Weile fügte er hinzu: „Na, wenn's dir Pläsier macht! Aber sei zur rechten Zeit wieder heim, eh die große Hitze kommt. Und vergiss mein Warmbier nicht!“
Damit warf er sich auf die andre Seite, dass die Bettstelle krachte, und gleich darauf hörte auch das Mädchen wieder das wohlbekannte abgemessene Schnarchen. Behutsam drückte sie ihre Kammertür auf. Als sie durch die Torfahrt ins Freie ging, hörte sie eben den Knecht die beiden Mägde wecken. „Es ist doch schnöd“, dachte sie, „dass du so hast lügen müssen, aber“ – und sie seufzte dabei ein wenig – „was tut man nicht um seinen Schatz!“
Drüben in seinem Sonntagsstaat stand schon Andrees ihrer wartend. „Weißt du dein Sprüchlein noch?“, rief er ihr entgegen. „Ja, Andrees! Und weißt du noch den Weg?“ Er nickte nur. „So lass uns gehen!“ - Aber eben kam noch Mutter Stine aus dem Hause und steckte ihrem Sohne ein mit Met gefülltes Fläschchen in die Tasche. „Der ist noch von der Urahne“, sagte sie, „sie tat allezeit sehr geheim und kostbar damit, der wird euch gut tun in der Hitze!“ Dann gingen sie im Morgenschein die stille Dorfstraße hinab, und die Witwe stand noch lange und schaute nach der Richtung, wo die jungen kräftigen Gestalten verschwunden waren.
Fredeswind Märchenschatztruhe
Inhalt Fredeswinds Märchenschatztruhe
"Wir meinen, das Märchen und das Spiel gehöre zur Kindheit: wir Kurzsichtigen! Als ob wir in irgendeinem Lebensalter ohne Märchen und Spiel leben möchten!"
Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844 - 1900)
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