15.02.2021, 09:27
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 15.02.2021, 09:57 von Fredeswind.)
Als sie von der untersten Stufe ins Freie traten, sahen sie eine gänzlich unbekannte Gegend vor sich. Maren sah befremdet umher. „Die Sonne scheint aber doch dieselbe zu sein!“, sagte sie endlich. „Kälter ist sie wenigstens nicht.“, meinte Andrees, indem er das Mädchen zur Erde hob. Von dem Platze, wo sie sich befanden, auf einem breiten Steindamm, lief eine Allee von alten Weiden in die Ferne hinaus. Sie bedachten sich nicht lange, sondern gingen, als sei ihnen der Weg gewiesen, zwischen den Reihen der Bäume entlang. Wenn sie nach der einen oder andern Seite blickten, so sahen sie in ein ödes, unabsehbares Tiefland, das so von aller Art von Rinnen und Vertiefungen zerrissen war, als bestehe es nur aus einem endlosen Gewirre verlassener See- und Strombetten. Dies schien auch dadurch bestätigt zu werden, dass ein beklemmender Dunst, wie von vertrocknetem Schilf, die Luft erfüllte.
Dabei lagerte zwischen den Schatten der einzeln stehenden Bäume eine solche Glut, dass es den beiden Wanderern war, als sähen sie kleine weiße Flammen über den staubigen Weg dahinfliegen. Andrees musste an die Flocken aus dem Feuerbarte des Kobolds denken. Einmal war es ihm sogar, als sähe er zwei dunkle Augenringe in dem grellen Sonnenschein; dann wieder glaubte er deutlich neben sich das tolle Springen der kleinen Spindelbeine zu hören. Bald war es links, bald rechts an seiner Seite. Wenn er sich aber wandte, vermochte er nichts zu sehen; nur die glutheiße Luft zitterte flirrend und blendend vor seinen Augen. „Ja, dachte er, indem er des Mädchens Hand erfasste und beide mühsam vorwärts schritten, sauer machst du's uns, aber recht behältst du heute nicht!“
Weiter und weiter gingen sie, der eine nur auf das immer schwerere Atmen des andern hörend. Der einförmige Weg schien kein Ende zu nehmen; neben ihnen unaufhörlich die grauen, halb entblätterten Weiden, seitwärts hüben und drüben unter ihnen die unheimlich dunstende Niederung. Plötzlich blieb Maren stehen und lehnte sich mit geschlossenen Augen an den Stamm einer Weide. „Ich kann nicht weiter“, murmelte sie, „die Luft ist lauter Feuer.“ Da gedachte Andrees des Metfläschchens, das sie bis dahin unberührt gelassen hatten.
– Als er den Stöpsel abgezogen, verbreitete sich ein Duft, als seien die Tausende von Blumen noch einmal zur Blüte auferstanden, aus deren Kelchen vor vielleicht mehr als hundert Jahren die Bienen den Honig zu diesem Tranke zusammengetragen hatten. Kaum hatten die Lippen des Mädchens den Rand der Flasche berührt, so schlug sie schon die Augen auf. „Oh!“, rief sie, „auf welcher schönen Wiese sind wir denn?“ „Auf keiner Wiese, Maren; aber trink nur, es wird dich stärken!“ Als sie getrunken hatte, richtete sie sich auf und schaute mit hellen Augen um sich her. „Trink auch einmal, Andrees“, sagte sie; „ein Frauenzimmer ist doch nur ein elendiglich Geschöpf!“
„Aber das ist ein echter Tropfen!“, rief Andrees, nachdem er auch gekostet hatte. „Mag der Himmel wissen, woraus die Uhrahne den gebraut hat!“ Dann gingen sie gestärkt und lustig plaudernd weiter. Nach einer Weile aber blieb das Mädchen wieder stehen. „Was hast du, Maren?, fragte Andrees. „Oh, nichts, ich dachte nur -“ „Was denn, Maren?“ „Siehst du, Andrees! Mein Vater hat noch sein halbes Heu draußen auf den Wiesen; und ich gehe da aus und will Regen machen!“ „Dein Vater ist ein reicher Mann, Maren; aber wir andern haben unser Fetzchen Heu schon längst in der Scheuer und unsre Frucht noch alle auf den dürren Halmen.“ „Ja, ja, Andrees, du hast wohl recht; man muss auch an die andern denken!“ Im stillen bei sich selber aber setzte sie später hinzu: „Maren, Maren, mach dir keine Flausen vor; du tust ja doch alles nur von wegen deinem Schatz!“
Fredeswind Märchenschatztruhe
Inhalt Fredeswinds Märchenschatztruhe
"Wir meinen, das Märchen und das Spiel gehöre zur Kindheit: wir Kurzsichtigen! Als ob wir in irgendeinem Lebensalter ohne Märchen und Spiel leben möchten!"
Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844 - 1900)
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