18.02.2021, 15:27
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 18.02.2021, 15:32 von Fredeswind.)
Da rauschte es sanft durch die Wipfel der Bäume, und in der Ferne donnerte es leise wie von einem Gewitter. Zugleich aber und, wie es schien, von jenseits des Gesteins kommend, durchschnitt ein greller Ton die Luft, wie der Wutschrei eines bösen Tieres. Als Maren emporsah, stand die Gestalt der Trude hoch aufgerichtet vor ihr. „Was willst du?“, fragte sie. „Ach, Frau Trude“, antwortete das Mädchen, „Ihr habt so grausam lang geschlafen, dass alles Laub und alle Kreatur verschmachten will!“ Die Trude sah sie mit weit aufgerissenen Augen an, als mühe sie sich, aus schweren Träumen zu kommen.
Endlich fragte sie mit tonloser Stimme: „Stürzt denn der Quell nicht mehr?“ „Nein, Frau Trude!“, erwiderte Maren. „Kreist denn mein Vogel nicht mehr über dem See?“ „Er steht in der heißen Sonne und schläft.“ „Weh!“, wimmerte die Regenfrau. „So ist es hohe Zeit. Steh auf und folge mir, aber vergiss nicht den Krug, der dort zu deinen Füßen liegt!“ Maren tat, wie ihr geheißen, und beide stiegen nun an der Seite des Gesteins hinauf.
– Noch mächtigere Baumgruppen, noch wunderbarere Blumen waren hier der Erde entsprossen, aber auch hier war alles welk und düftelos. – Sie gingen an der Rinne des Baches entlang, der hinter ihnen seinen Abfall vom Gestein gehabt hatte. Langsam und schwankend schritt die Trude dem Mädchen voran, nur dann und wann die Augen traurig umherwendend. Dennoch meinte Maren, es bleibe ein grüner Schimmer auf dem Rasen, den ihr Fuß betreten, und wenn die grauen Gewänder über das dürre Gras schleppten, da rauschte es so eigen, dass sie immer darauf hinhören musste.
„Regnet es denn schon, Frau Trude?“, fragte sie. „Ach nein, Kind, erst musst du den Brunnen aufschließen!“ „Den Brunnen? Wo ist denn der?“ Sie waren eben aus einer Gruppe von Bäumen herausgetreten. „Dort!“, sagte die Trude, und einige tausend Schritte vor ihnen sah Maren einen ungeheuren Bau emporsteigen. Er schien von grauem Gestein zackig und unregelmäßig aufgetürmt; bis in den Himmel, meinte Maren, denn nach oben hinauf war alles wie in Duft und Sonnenglanz zerflossen. Am Boden aber wurde die in riesenhaften Erkern vorspringende Front überall von hohen spitzbogigen Tor- und Fensterhöhlen durchbrochen, ohne dass jedoch von Fenstern oder Torflügeln selbst etwas zu sehen gewesen wäre.
Fredeswind Märchenschatztruhe
Inhalt Fredeswinds Märchenschatztruhe
"Wir meinen, das Märchen und das Spiel gehöre zur Kindheit: wir Kurzsichtigen! Als ob wir in irgendeinem Lebensalter ohne Märchen und Spiel leben möchten!"
Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844 - 1900)
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