13.02.2021, 09:41
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 13.02.2021, 09:44 von Fredeswind.)
Endlich kamen sie aus dem Walde, und dort, ein paar Schritte vor ihnen, stand auch schon der alte Weidenbaum. Der mächtige Stamm war ganz gehöhlt, und das Dunkel, das darin herrschte, schien tief in den Abgrund der Erde zu führen. Andrees stieg zuerst allein hinab, währen Maren sich auf die Höhlung des Baumes lehnte und ihm nachzublicken suchte. Aber bald sah sie nichts mehr von ihm, nur das Geräusch des Hinabsteigens schlug noch an ihr Ohr. Ihr begann angst zu werden, oben um sie her war es so einsam, und von unten hörte sie endlich auch keinen Laut mehr.
Sie steckte den Kopf tief in die Höhlung und rief: „Andrees, Andrees!“ Aber es blieb alles still, und noch einmal rief sie: „Andrees!“ – Da nach einiger Zeit war es ihr, als höre sie es von unten wieder heraufkommen, und allmählich erkannte sie auch die Stimme des jungen Mannes, der ihren Namen rief, und fasste seine Hand, die er ihr entgegenstreckte. „Es führt eine Treppe hinab“, sagte er, „aber sie ist steil und ausgebröckelt, und wer weiß, wie tief nach unten zu der Abgrund ist!“
Maren erschrak. „Fürchte dich nicht“, sagte er, „ich trage dich; ich habe einen sichern Fuß.“ Dann hob er das schlanke Mädchen auf seine breite Schulter; und als sie die Arme fest um seinen Hals gelegt hatte, stieg er behutsam mit ihr in die Tiefe. Dichte Finsternis umgab sie; aber Maren atmete doch auf, während sie so Stufe um Stufe wie in einem gewundenen Schneckengange hinabgetragen wurde; denn es war kühl hier im Innern der Erde.
Kein Laut von oben drang zu ihnen herab; nur einmal hörten sie dumpf aus der Ferne die unterirdischen Wasser brausen, die vergeblich zum Lichte emporarbeiteten. „Was war das?“, flüsterte das Mädchen. „Ich weiß nicht, Maren.“ „Aber hat's denn noch kein Ende?“ „Es scheint fast nicht.“ „Wenn dich der Kobold nur nicht betrogen hat!“ „Ich denke nicht, Maren.“ So stiegen sie tiefer und tiefer. Endlich spürten sie wieder den Schimmer des Sonnenlichts unter sich, das mit jedem Tritt leuchtender wurde; zugleich aber drang auch eine erstickende Hitze zu ihnen herauf.
Fredeswind Märchenschatztruhe
Inhalt Fredeswinds Märchenschatztruhe
"Wir meinen, das Märchen und das Spiel gehöre zur Kindheit: wir Kurzsichtigen! Als ob wir in irgendeinem Lebensalter ohne Märchen und Spiel leben möchten!"
Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844 - 1900)
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