26.02.2021, 10:54
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 26.02.2021, 11:02 von Fredeswind.)
Als aber Maren auf die schöne Trude blickte, wie sie mit dem roten lächelnden Munde so stolz neben ihr über den Rasen schritt, erschien sie sich plötzlich in ihren bäuerischen Kleidern so plump und hässlich, dass sie dachte: „Ei, das tut nicht gut, die braucht der Andrees nicht zu sehen!“ Laut aber sprach sie: „Habt Dank für Euer Geleite, Frau Trude, ich finde mich nun schon selber!“ „Aber ich muss doch deinen Schatz noch sehen!“ „Bemüht Euch nicht, Frau Trude“, erwiderte Maren, „es ist eben ein Bursch wie die andern auch und just gut genug für ein Mädel vom Dorf.“
Die Trude sah sie mit durchdringenden Augen an. „Schön bist du, Närrchen!“, sagte sie und erhob drohend ihren Finger: „Bist du denn aber auch in deinem Dorf die Allerschönste?“ Da stieg dem hübschen Mädchen das Blut ins Gesicht, dass ihr die Augen überliefen. Die Trude aber lächelte schon wieder. „So merk denn auf!“, sagte sie; „weil nun doch alle Quellen wieder springen, so könnt ihr einen kürzern Weg haben. Gleich unten links am Weidendamm liegt ein Nachen. Steig getrost hinein; er wird euch rasch und sicher in eure Heimat bringen! – Und nun leb wohl!“, rief sie und legte ihren Arm um den Nacken des Mädchens und küsste sie. „Oh, wie süß frisch schmeckt doch solch ein Menschenmund!“
Dann wandte sie sich und ging unter den fallenden Tropfen über den Rasen dahin. Dabei hub sie an zu singen; das klang süß und eintönig; und als die schöne Gestalt zwischen den Bäumen verschwunden war, da wusste Maren nicht, hörte sie noch immer aus der Ferne den Gesang, oder war es nur das Rauschen des niederfallenden Regens. Eine Weile noch blieb das Mädchen stehen; dann, wie in plötzlicher Sehnsucht, streckte sie die Arme aus. „Lebt wohl, schöne, liebe Regentrude, lebt wohl!“ rief sie. – Aber keine Antwort kam zurück; sie erkannte es nun deutlich, es war nur noch der Regen, der herniederrauschte.
Als sie hierauf langsam dem Eingange des Gartens zuschritt, sah sie den jungen Bauer hoch aufgerichtet unter den Bäumen stehen. „Wonach schaust du denn so?“, fragte sie, als sie näher gekommen war. „Alle Tausend, Maren!“, rief Andrees, „was war denn das für ein sauber Weibsbild?“ Das Mädchen aber ergriff den Arm des Burschen und drehte ihn mit einem derben Ruck herum. „Guck dir nur nicht die Augen aus!“, sagte sie, „das ist keine für dich; das war die Regentrude!“
Fredeswind Märchenschatztruhe
Inhalt Fredeswinds Märchenschatztruhe
"Wir meinen, das Märchen und das Spiel gehöre zur Kindheit: wir Kurzsichtigen! Als ob wir in irgendeinem Lebensalter ohne Märchen und Spiel leben möchten!"
Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844 - 1900)
Inhalt Fredeswinds Märchenschatztruhe
"Wir meinen, das Märchen und das Spiel gehöre zur Kindheit: wir Kurzsichtigen! Als ob wir in irgendeinem Lebensalter ohne Märchen und Spiel leben möchten!"
Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844 - 1900)