22.04.2023, 08:46
(Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 22.04.2023, 08:47 von Fredeswind.)
„Zugegriffen, liebe Freunde!“, sprach der Schreiner, und die Gäste, als sie sahen, wie es gemeint war, ließen sich nicht zweimal bitten, rückten heran und griffen tapfer zu. Und was sie am meisten verwunderte: wenn eine Schüssel leer geworden war, stellte sich gleich von selbst eine volle an ihren Platz. Der Wirt stand in einer Ecke und sah dem Dinge zu. Er wusste gar nicht, was er sagen sollte, dachte aber: „Einen solchen Koch könntest du in deiner Wirtschaft wohl brauchen.“
Der Schreiner und seine Gesellschaft waren lustig bis in die späte Nacht; endlich legten sie sich schlafen, und der junge Geselle ging auch zu Bett und stellte sein Wünschtischchen an die Wand. Dem Wirte aber ließen seine Gedanken keine Ruhe. Es fiel ihm ein, dass in seiner Rumpelkammer ein altes Tischchen stünde, das gerade so aussähe, das holte er ganz sachte herbei und vertauschte es mit dem Wünschtischchen.
Am andern Morgen zahlte der Meister sein Schlafgeld, packte sein Tischchen auf, dachte gar nicht daran, dass er ein falsches hätte, und ging seiner Wege. Zu Mittag kam er bei seinem Vater an, der ihn mit großer Freude empfing.
„Nun, mein lieber Sohn, was hast du gelernt?“, sagte er zu ihm. „Vater, ich bin ein Schreiner geworden.“ - „Ein gutes Handwerk! erwiderte der Alte; „aber was hast du von deiner Wanderschaft mitgebracht?“ - „Vater, das Beste, was ich mitgebracht habe, ist das Tischehen.“ Der Vater betrachtete es von allen Seiten und sagte: „Daran hast du kein Meisterstück gemacht, das ist ein altes und schlechtes Tischchen.“
„Aber es ist ein Tischchendeckdich“, antwortete der Sohn; „wenn ich es hinstelle und sage ihm, es solle sich decken, so stehen gleich die schönsten Gerichte darauf und ein Wein dabei, der das Herz erfreut. Ladet nur alle Verwandte und Freunde ein, die sollen sich einmal laben und erquicken, denn das Tischchen macht sie alle satt.“
Fredeswind Märchenschatztruhe
Inhalt Fredeswinds Märchenschatztruhe
"Wir meinen, das Märchen und das Spiel gehöre zur Kindheit: wir Kurzsichtigen! Als ob wir in irgendeinem Lebensalter ohne Märchen und Spiel leben möchten!"
Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844 - 1900)
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