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Fredeswinds Märchenschatztruhe
Un as de soste Maand vorby wöör, do wurren de Früchte dick un staark, do wurr se ganß still: un de söwde Maand, do greep se na den Machandelbeeren un eet se so nydsch, do wurr se trurig un krank.

Und als der sechste Monat vorbei war, da wurden die Früchte dick und stark, und sie wurde ganz still; und der siebente Monat, da griff sie nach den Wacholderbeeren und aß sie so begehrlich; und da wurde sie traurig und krank.

   



Do güng de achte Maand hen, un se reep eren Mann un weend un säd: „Wenn ik staarw, so begraaf my ünner den Machandelboom.“ Do wurr se ganß getrost, un freude sik, bet de neegte Maand vorby wöör, do kreeg se en Kind so witt as Snee un so rood as Blood, un as se dat seeg, so freude se sik so, dat se stürw.

Da ging der achte Monat hin, und sie rief ihren Mann und weinte und sagte: „Wenn ich sterbe, so begrabe mich unter dem Wacholder.“ Da wurde sie ganz getrost und freute sich, bis der neunte Monat vorbei war: da kriegte sie ein Kind so weiß wie der Schnee und so rot wie Blut, und als sie das sah, da freute sie sich so, dass sie starb.

   



Do begroof ehr Mann se ünner den Machandelboom, un he füng an to wenen so sehr; ene Tyd lang, do wurr dat wat sachter, un do he noch wat weend hadd, do hüll he up, un noch en Tyd, do nöhm he sik wedder ene Fru.

Da begrub ihr Mann sie unter dem Wacholder, und er fing an, so sehr zu weinen; eine Zeitlang dauerte das, dann flossen die Tränen schon sachter, und als er noch etwas geweint hatte, da hörte er auf, und noch eine Zeit, da nahm er sich wieder eine Frau.

   


Mit de tweden Fru kreeg he ene Dochter; dat Kind awerst von der eersten Fru wöör en lüttje Sähn, un wöör so rood as Blood un so witt as Snee. Wenn de Fru ere Dochter so anseeg, so hadd se se so leef, awerst denn seeg se den lüttjen Jung an, un dat güng ehr so dorch't Hart, un ehr düchd, as stünn he ehr allerwegen im Weg.

Mit der zweiten Frau hatte er eine Tochter; das Kind aber von der ersten Frau war ein kleiner Sohn, und war so rot wie Blut und so weiß wie Schnee. Wenn die Frau ihre Tochter so ansah, so hatte sie sie sehr lieb; aber dann sah sie den kleinen Jungen an, und das ging ihr so durchs Herz, und ihr dünkte, als stünde er ihr überall im Wege.

   



Un se dachd denn man jümmer, wo se ehr Dochter all dat Vörmägent towenden wull, un de Böse gaf ehr dat in, dat se dem lüttjen Jung ganß gramm wurr un stödd em herüm von een Eck in de anner, un buffd em hier un knuffd em door, so dat dat aarme Kind jümmer in Angst wöör. Wenn he denn uut de School köhm, so hadd he kene ruhige Städ.

Und sie dachte dann immer, wie sie ihrer Tochter all das Vermögen zuwenden wollte, und der Böse gab es ihr ein, dass sie dem kleinen Jungen ganz gram wurde, und sie stieß ihn aus einer Ecke in die andere, und puffte ihn hier und knuffte ihn dort, so dass das arme Kind immer in Angst war. Wenn er dann aus der Schule kam, so hatte er keine ruhige Stätte.

   


Fredeswind Märchenschatztruhe

Inhalt Fredeswinds Märchenschatztruhe


"Wir meinen, das Märchen und das Spiel gehöre zur Kindheit: wir Kurzsichtigen! Als ob wir in irgendeinem Lebensalter ohne Märchen und Spiel leben möchten!"

Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844 - 1900)
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Eens wöör de Fru up de Kamer gaan, do köhm de lüttje Dochter ook herup un säd : „Moder, gif my enen Appel.“ „Ja, myn Kind“, säd de Fru un gaf ehr enen schönen Appel uut der Kist; de Kist awerst hadd einen grooten sworen Deckel mit en groot schaarp ysern Slott. „Moder“, säd de lüttje Dochter, „schall Broder nich ook enen hebben?“

Einmal war die Frau in die Kammer hoch gegangen; da kam die kleine Tochter auch herauf und sagte: „Mutter, gib mir einen Apfel.“ „Ja, mein Kind“, sagte die Frau und gab ihr einen schönen Apfel aus der Kiste; die Kiste aber hatte einen großen schweren Deckel mit einem großen scharfen eisernen Schloss. „Mutter“, sagte die kleine Tochter, „soll der Bruder nicht auch einen haben?“

   



Dat vördrööt de Fru, doch säd se: „Ja, wenn he uut de School kummt.“ Un as se uut dat Fenster wohr wurr, dat he köhm, so wöör dat recht, as wenn de Böse äwer ehr köhm, un se grappst to un nöhm erer Dochter den Appel wedder wech und säd: „Du schalst nich ehr enen hebben as Broder.“ Do smeet se den Appel in de Kist un maakd de Kist to.

Das verdross die Frau, doch sagte sie: „Ja, wenn er aus der Schule kommt.“ Und als sie ihn vom Fenster aus gewahr wurde, so war das gerade, als ob der Böse in sie gefahren wäre, und sie griff zu und nahm ihrer Tochter den Apfel wieder weg und sagte: „Du sollst ihn nicht eher haben als der Bruder.“ Da warf sie den Apfel in die Kiste und machte die Kiste zu.

   



Do köhm de lüttje Jung in de Döhr, do gaf ehr de Böse in, dat se fründlich to em säd: „Myn Sähn, wullt du enen Appel hebben?“, un seeg em so hastig an. „Moder“, säd de lüttje Jung, „wat sühst du gräsig uut! ja, gif my enen Appel.“ Do wöör ehr, as schull se em toreden. „Kumm mit my“, säd se un maakd den Deckel up, „hahl dy enen Appel heruut.“

Da kam der kleine Junge in die Tür; da gab ihr der Böse ein, dass sie freundlich zu ihm sagte: „Mein Sohn, willst du einen Apfel haben?“, und sah ihn so hässlich an. „Mutter“, sagte der kleine Junge, „was siehst du so grässlich aus! Ja, gib mir einen Apfel!“ Da war ihr, als sollte sie ihm zureden. „Komm mit mir“, sagte sie und machte den Deckel auf, „hol dir einen Apfel heraus!“

   



Un as sik de lüttje Jung henin bückd, so reet ehr de Böse, bratsch! slöögt se den Deckel to, dat de Kopp afflöög un ünner de roden Appel füll.

Und als der kleine Junge sich hineinbückte, da riet ihr der Böse; bratsch! Schlug sie den Deckel zu, dass der Kopf flog und unter die roten Äpfel fiel.

   



Da äwerleep ehr dat in de Angst, un dachd: „Kunn ich dat von my bringen!“ Da güng se bawen na ere Stuw na erem Draagkasten un hahl uut de bäwelste Schuuflad enen witten Dook, un sett't den Kopp wedder up den Hals un bünd den Halsdook so üm, dat'n niks sehn kunn, un sett't em vör de Döhr un gaf em den Appel in de Hand.

Da überlief sie die Angst, und sie dachte: „Könnt ich das von mir bringen!“ Da ging sie hinunter in ihre Stube zu ihrem Tragkasten und holte aus der obersten Schublade ein weißes Tuch und setzt den Kopf wieder auf den Hals und band das Halstuch so um, dass man nichts sehen konnte und setzt ihn vor die Türe und gab ihm den Apfel in die Hand.

   
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Do köhm doorna Marleenken to erer Moder in de Kääk, de stünn by dem Führ un hadd enen Putt mit heet Water vör sik, den röhrd se jümmer üm. „Moder“, säd Marleenken, „Broder sitt vör de Döhr un süht ganz witt uut un hett enen Appel in de Hand, ik heb em beden, he schull my den Appel gewen, awerst he antwöörd my nich, do wurr my ganß grolich.“

Darnach kam Marlenchen zu ihrer Mutter in die Küche. Die stand beim Feuer und hatte einen Topf mit heißem Wasser vor sich, den rührte sie immer um. „Mutter“, sagte Marlenchen, „der Bruder sitzt vor der Türe und sieht ganz weiß aus und hat einen Apfel in der Hand. Ich hab ihn gebeten, er soll mir den Apfel geben, aber er antwortet mir nicht; das war mir ganz unheimlich.“

   



Gah nochmaal hen“, säd de Moder, „un wenn he dy nich antworden will, so gif em eens an de Oren.“ Da güng Marleenken hen und säd: „Broder, gif my den Appel!“ Awerst he sweeg still. do gaf se em eens up de Oren, do feel de Kopp herünn.

Geh noch einmal hin“, sagte die Mutter, „und wenn er dir nicht antwortet, dann gib ihm eins hinter die Ohren.“ Da ging Marlenchen hin und sagte: „Bruder, gib mir den Apfel!“ Aber er schwieg still; da gab sie ihm eins hinter die Ohren. Da fiel der Kopf herunter.

   



Doräwer vörschrock se sik un füng an to wenen un to roren, un löp to erer Moder un säd:  „Ach, Moder, ik hebb mynen Broder den Kopp afslagen“, un weend un weend un wull sik nich tofreden gewen. „Marleenken“, säd de Moder, „wat hest du dahn! Awerst swyg man still, dat et keen Mensch markt, dat is nu doch nich to ännern; wy willen em in Suhr kaken“

Darüber erschrak sie und fing an zu weinen und zu schreien und lief zu ihrer Mutter und sagte: „Ach, Mutter, ich hab meinem Bruder den Kopf abgeschlagen“, und weinte und weinte und wollte sich nicht zufrieden geben. „Marlenchen“, sagte die Mutter, „was hast du getan! Aber schweig nur still, dass es kein Mensch merkt; das ist nun doch nicht zu ändern, wir wollen ihn in Sauersud kochen.“

   



Da nöhm de Moder den lüttjen Jung un hackd em in Stücken, ded de in den Putt un kaakd em in Suhr. Marleenken awerst stünn daarby  un weend un weend, un de Tranen füllen all in den Put, un se bruukden gorr keen Solt.

 Da nahm die Mutter den kleinen Jungen und hackte ihn in Stücke, tat sie in den Topf und kochte ihn in Sauersud. Marlenchen aber stand dabei und weinte und weinte, und die Tränen fielen alle in den Topf, und sie brauchten kein Salz.

   



Da köhm de Vader to Huus un säd : „Wo is denn myn Sähn?“ Da droog de Moder een grooten Pott up mit Swartsuhr, un Marleenken weend un kunn sich nich hollen. Do säd de Vader wedder: „wo is denn myn Sähn?“ „Ach“, säd de Moder, „he is äwer Land gaan, na Mütten erer Grootöhm: he wull door wat blywen.“

Da kam der Vater nach Hause und und sagte: „Wo ist denn mein Sohn?“ Da trug die Mutter einen großneTopf mit Schwarzsauer auf, und Marlenchen weinte und konnte sich nicht halten. Da sagte der Vater wieder: „Wo ist denn mein Sohn?“ „Ach“, sagte die Mutter, „er ist über Land gegangen, zu den Verwandten seiner Mutter; er wollte dort eine Weile bleiben.“

   
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Wat dait he denn door? un heft my nich maal adjüüs sechd!“ „O he wull geern hen un bed my, of he door wol sos Wäken blywen kunn; he is jo woll door uphawen.“ „Ach“, säd de Mann, „my is so recht trurig, dat is doch nich recht, he hadd my doch adjüüs sagen schullt.“ Mit Sett't he sik to Disch un füng an to äten und säd. „Marleenken, wat weenst du? Broder wart wol wedder kamen.

Was tut er denn dort? Er hat mir nicht mal Adieu gesagt!“ „Oh, er wollte so gern hin und bat mich, ob er dort wohl sechs Wochen bleiben könnte; er ist ja gut aufgehoben dort.“ „Ach“, sagte der Mann, „mir ist so recht traurig zumute; das ist doch nicht recht, er hätte mir doch Adieu sagen können.“ Damit setzte er sich zu Tisch fing an zu essen und sagte: „Marlenchen, warum weinst du? Der Bruder wird schon wiederkommen.“

   



Ach, Fru“, säd he do, „wat smeckt my dat Äten schöön! Gif my mehr!“ Un je mehr he eet, je mehr wull he hebben, un säd. „Geeft my mehr, gy schöhlt niks door af hebben, dat is, as wenn dat all myn wör.“ Un he eet un eet, un de Knakens smeet he all ünner den Disch, bet he allens up hadd.

Ach Frau“, sagte er dann, „was schmeckt mir das Essen schön! Gib mir mehr!“ Und je mehr er aß, um so mehr wollte er haben und sagte: „Gebt mir mehr, ihr sollt nichts davon aufheben, das ist, als ob das alles mein wäre.“ Und er aß und aß, und die Knochen warf er alle unter den Tisch, bis er mit allem fertig war.

   



Marleenken awerst güng hen na ere Kommod und nöhm ut de ünnerste Schuuf eren besten syden Dook, un hahl all de Beenkens und Knakens ünner den Disch heruut un bünd se in den syden Dook und droog se vör de Döhr un weend ere blödigen Tranen. Door läd se se ünner den Machandelboom in dat gröne Gras, un as se se door henlechd hadd, so war ehr mit eenmal so recht licht, un weend nich mer.

Marlenchen aber ging hin zu ihrer Kommode und nahm aus der untersten Schublade ihr bestes seidenes Tuch und holte all die Beinchen und Knochen unter dem Tisch hervor und band sie in das seidene Tuch und trug sie vor die Tür und weinte blutige Tränen. Dort legte sie sie unter den Wacholder in das grüne Gras, und als sie sie dahin gelegt hatte, da war ihr auf einmal ganz leicht, und sie weinte nicht mehr.

   



Do füng de Machandelboom an sik to bewegen, un de Twyge deden sik jümmer so recht von eenanner, un denn wedder tohoop, so recht as wenn sik eener so recht freut un mit de Händ so dait. Mit des so güng dar so'n Newel von dem Boom, un recht in dem Newel, dar brennd dat as Führ, un uut dem Führ, dar flöög so'n schönen Vagel heruut.

Da fing der Wacholder an, sich zu bewegen, und die Zweige gingen immer so voneinander und zueinander, so recht, wie wenn sich einer von Herzen freut und die Hände zusammenschlägt. Dabei ging ein Nebel von dem Baum aus, und mitten in dem Nebel, da brannte es wie Feuer, und aus dem Feuer flog so ein schöner Vogel heraus.

   



De Vagel süng so herrlich und flöög hoog in de Luft, un as he wech wöör, do wöör de Machandelboom, as he vörhen west wör, un de Dook mit de Knakens wöör wech. Marleenken awerst wöör so recht licht un vörgnöögt, recht as wenn de Broder noch leewd. Do güng se wedder ganß lustig in dat Huus by Disch un eet.

Der Vogel sang so herrlich und flog hoch in die Luft, und als er weg war, da war der Wacholder wie er vorher gewesen war, und das Tuch mit den Knochen war weg. Marlenchen aber war so recht leicht und vergnügt zumute, so recht, als wenn ihr Bruder noch lebte. Da ging sie wieder ganz lustig nach Hause, setzte sich zu Tisch und aß.

   
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De Vagel awerst flöög wech un sett't sik up enen Goldsmidt syn Huus un füng an to singe:
„Min Moder, de mi slacht't,
min Vader, de mi att,
min Swester, de Marleenken,
söcht alle mine Beenken,
bind't se in een syden Dook,
legts ünner den Machandelboom.
Kywitt, kywitt, wat vör'n schöön Vagel bün ik!“

Der Vogel aber flog weg und setzte sich auf eines Goldschmieds Haus und fing an zu singen:
"Mein Mutter die mich schlacht,
mein Vater der mich aß,
mein Schwester das Marlenichen
sucht alle meine Benichen,
bindt sie in ein seiden Tuch,
legt's unter den Wachholderbusch.
Kiwitt, kiwitt, was für'n schöner Vogel bin ich!"

   



De Goldsmidt seet in syn Waarkstäd un maakd ene gollne Kede, do höörd he den Vagel, de up syn Dack seet und süng, un dat dünkd em so schöön. Da stünn he up, un as he äwer den Süll güng, da vörlöör he eenen Tüffel. He güng awer so recht midden up de Strat hen, eenen Tüffel un een Sock an.

Der Goldschmied saß in seiner Werkstatt und machte eine goldene Kette; da hörte er den Vogel, der auf seinem Dach saß und sang, und das dünkte ihn so schön. Da stand er auf, und als er über die Türschwelle ging, da verlor er einen Pantoffel. Er ging aber so recht mitten auf die Strasse hin, mit nur einem Pantoffel und einer Socke.

   



Syn Schortfell hadd he vör, un in de een Hand hadd he de golln Kede un in de anner de Tang; un de Sünn schynd so hell up de Strat. Door güng he recht so staan un seeg den Vagel an. „Vagel,“ secht he do, „wo schöön kannst du singen! Sing my dat Stück nochmaal.“

Sein Schurzfell hatte er vor, und in
der einen Hand hatte er die goldene Kette, und in der anderen die Zange; und die Sonne schien so hell auf die Strasse. Da stellte er sich nun hin und sah den Vogel an. „Vogel“, sagte er da, „wie schön kannst du singen! Sing mir das Stück noch mal!“

   



Ne“, secht de Vagel, „twemaal sing ik nich umsünst. Gif my de golln Kede, so will ik dy't nochmaal singen.“ „Door“, secht de Goldsmidt, „hest du de golln Kede, nu sing my dat nochmaal.“ Do köhm de Vagel un nöhm de golln Kede so in de rechte Poot.

Nein“, sagte der Vogel, „zweimal sing ich nicht umsonst. Gib mir die goldene Kette, so will ich es dir noch einmal singen.“ „Da“, sagte der Goldschmied, „hast du die goldene Kette; nun sing mir das noch einmal!“ Da kam der Vogel und nahm die goldene Kette in die rechte Pfote.

   



 He güng vor den Goldsmidt sitten un süng: „Min Moder, de mi slacht't,
min Vader, de mi att,
min Swester, de Marleenken,
söcht alle mine Beenken,
bind't se in een syden Dook,
legts ünner den Machandelboom.
Kywitt, kywitt, wat vör'n schöön Vagel bün ik!“

Er setzte sich vor den Goldschmied hin und sang:
"Mein Mutter die mich schlacht,
mein Vater der mich aß,
mein Schwester das Marlenichen,
sucht alle meine Benichen,
bindt sie in ein seiden Tuch,
legt's unter den Wacholderbusch.
Kiwitt, kiwitt, was für'n schöner Vogel bin ich!“

   
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Da flög de Vagel wech na enem Schooster, und sett't sik up den syn Dack un süng:
„Min Moder, de mi slacht't,
min Vader, de mi att,
min Swester, de Marleenken,
söcht alle mine Beenken,
bind't se in een syden Dook,
legts ünner den Machandelboom.
Kywitt, kywitt, wat vör'n schöön Vagel bün ik!“
De Schooster höörd dat und leep vör syn Döhr in Hemdsaarmels, un seeg na syn Dack un mussd de Hand vör de Ogen hollen, dat de Sünn em nich blend't. „Vagel,“ secht he, „wat kannst du schöön singen.“ Do rööp he in syn Döhr henin: „Fru, kumm maal heruut, dar is een Vagel: süh maal den Vagel, de kann maal schöön singen.“

Da flog der Vogel fort zu einem Schuster, und setzt sich auf sein Dach und sang:
Mein Mutter die mich schlacht,
mein Vater der mich aß,
meine Schwester das Marlenichen,
sucht alle meine Benichen,
bindt sie in ein seiden Tuch,
legt's unter den Wacholderbusch.
Kiwitt, kiwitt, was für'n schöner Vogel bin ich!“
Der Schuster hörte das und lief in Hemdsärmeln vor seine Tür und sah zu seinem Dach hinauf und musste die Hand vor die Augen halten, dass die Sonne ihn nicht blendete. „Vogel“, sagte er, „was kannst du schön singen.“ Da rief er zur Tür hinein: „Frau, komm mal heraus, da ist ein Vogel; sieh doch den Vogel.

   



Do rööp he syn Kinner un Gesellen, Jung un Maagd, un se kömen all up de Strat un seegen den Vagel an, wo schöön he wöör, un he hadd so schööne Feddern un de Ogen blünken em im Kopp as Steern. „Vagel“, sägd de Schooster, „nu sing my dat Stück nochmaal.“ „Ne“, secht de Vagel, „tweemal sing ik nich umsünst, du must my wat schenken.“

Dann rief er seine Kinder und den Gesellen, den Lehrjungen und die Magd, und sie kamen alle auf die Strasse und sahen den Vogel an, wie schön er war; und er hatte so schöne Federn und die Augen blickten ihm wie Sterne im Kopf. „Vogel“, sagte der Schuster, „nun sing mir das Stück noch einmal!“ „Nein“, sagte der Vogel, „zweimal sing ich nicht umsonst, du musst mir etwas schenken.“

   



Fru“, säd de Mann, „gah na dem Bähn: up dem bäwelsten Boord, door staan een Poor rode Schö, de bring herünn.“ Do güng de Fru hen un hahl de Schö. „Door, Vagel“, säd de Mann, „nu sing my dat Stück nochmaal.“

Frau“, sagte der Mann, „geh auf den Boden, auf dem obersten Wandbrett, da stehen ein paar rote Schuh, die bring herunter!“ Da ging die Frau hin und holte die Schuhe. „Da, Vogel“, sagte der Mann, „nun sing mir das Lied noch einmal!“

   



Do köhm de Vagel und nöhm de Schö in de linke Klau, un flöög wedder up dat Dack un süng:
„Min Moder, de mi slacht't,
min Vader, de mi att,
min Swester, de Marleenken,
söcht alle mine Beenken,
bind't se in een syden Dook,
legts ünner den Machandelboom.
Kywitt, kywitt, wat vör'n schöön Vagel bün ik!“

Da kam der Vogel und nahm die Schuhe in die linke Klaue und flog wieder auf das Dach und sang:
Mein Mutter die mich schlacht,
mein Vater der mich aß,
mein Schwester das Marlenichen
sucht alle meine Benichen,
bindt sie in ein seiden Tuch,
legt's unter den Wacholderbusch.
Kiwitt, kiwitt, was für', schöner Vogel bin ich!"

   



Un as he uutsungen hadd, so flöög he wech: de Kede hadd he in de rechte und de Schö in de linke Klau, un he flöög wyt wech na ene Mähl, un de Mähl güng 'klippe klappe, klippe klappe, klippe klappe'. Un in de Mähl, door seeten twintig Mählenburßen, de hauden enen Steen und hackden 'hick hack, hick hack, hick hack', un de Mähl güng 'klippe klappe, klippe klappe, klippe klappe.'

Und als er ausgesungen hatte, da flog er weg; die Kette hatte er in der rechten und die Schuhe in der linken Kralle, und er flog weit weg, zu einer Mühle, und die Mühle ging: 'klippe klappe, klippe klappe, klippe klappe'. Und bei der Mühle saßen Mühlknappen, die klopften einen Stein und hackten: 'hick hack, hick hack, hick hack'; und die Mühle ging 'klippe klappe, klippe klappe, klippe klappe'.

   
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Do güng de Vagel up enen Lindenboom sitten, de vör de Mähl stünn, un süng:
„Min Moder, de mi slacht't,min Vader, de mi att,“ -
do höörd een up,
„min Swester, de Marleenken, söcht alle mine Beenken,
bind't se in een syden Dook“, -
do höörde noch een up un höörden dat, nu hackden nur noch eener
„legts ünner den Machandelboom.
Kywitt, kywitt, wat vör'n schöön Vagel bün ik!“

Da setzte sich der Vogel auf einen Lindenbaum, der vor der Mühle stand und sang:
Mein Mutter die mich schlacht, mein Vater der mich aß",
- da hörte einer auf,
meine Schwester das Marlenichen
sucht alle meine Benichen, bindt sie in ein seiden Tuch", - da hörte noch einer auf und hörte das, nun hackte nur noch einer;
legt's unter den Wacholderbusch.
Kiwitt, kiwitt, wat vör'n schöön Vagel bün ik!"

   



Da hüll de lezte ook up, und hadd dat lezte noch höörd. „Vagel,“, secht he, „wat singst du schöön! Laat my dat ook hören, sing my dat nochmaal.“ „Ne“, secht de Vagel, „twemaal sing ik nich umsünst, gif my den Mählensteen, so will ik dat nochmaal singen.“

Da hörte der letzte auch auf, und hatte das letzte noch gehört. „Vogel“, sagte er, „was singst du schön! Lass mich das auch hören, sing mir das noch einmal!“ „Nein“, sagte der Vogel, „zweimal sing ich nicht umsonst, gib mir den Mühlenstein, so will ich das noch einmal singen.“

   



 „Ja“, secht he, „wenn he my alleen tohöörd, so schullst du em hebben.“ „Ja“, säden de annern, „wenn he nochmaal singt, so schall he em hebben.“

Ja“, sagte er, „wenn er mir allein gehörte, so solltest du ihn haben.“ „Ja“, sagten die anderen, „wenn er noch einmal singt, so soll er ihn haben.“

   



Do köhm de Vagel herünn, un de Möllers faat'n all an un höbben den Steen up: “Hu uh uhp, hu uh uhp, hu uh uhp!“

Da kam der Vogel heran und die Müller fassten alle an und hoben den Stein auf: „Hu uh uhp, hu uh uhp, hu uh uhp!“

   



Da stöök de Vagel den Hals döör dat Lock un nöhm em üm as enen Kragen, un flöög wedder up den Boom un süng:
„Min Moder, de mi slacht't,
min Vader, de mi att,
min Swester, de Marleenken,
söcht alle mine Beenken,
bind't se in een syden Dook,
legts ünner den Machandelboom.
Kywitt, kywitt, wat vör'n schöön Vagel bün ik!“

Da steckte der Vogel den Hals durch das Loch und nahm ihn um wie einen Kragen und flog wieder auf den Baum und sang:
Mein Mutter die mich schlacht,
mein Vater der mich aß,
mein Schwester das Marlenichen
sucht alle meine Benichen,
bindt sie in ein seiden Tuch,
legt's unter den Wacholderbusch.
Kiwitt, kiwitt, was für'n schöner Vogel bin ich!“

   
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Un as he dat uutsungen hadd, do deed he de Flünk von eenanner, un hadd in de rechte Klau de Kede un in de linke de Schö un üm den Hals den Mählensteen, un floog wyt wech na synes Vaders Huse.

Und als er das ausgesungen hatte, da tat er die Flügel auseinander und hatte in der rechten Kralle die Kette und in der linken die Schuhe und um den Hals den Mühlenstein, und flog weit weg zu seines Vaters Haus.

   



In de Stuw seet de Vader, de Moder un Marleenken by Disch, un de Vader säd: „Ach, wat waart my licht, my is recht so good to Mode.“ „Nä“, säd de Moder, „my is recht so angst, so recht, as wenn en swoor Gewitter kummt.“ Marleenken awerst seet un weend un weend.

In der Stube saß der Vater, die Mutter und Marlenchen bei Tisch, und der Vater sagte: „Ach, was wird mir so leicht, mir ist so recht gut zumute.“ „Nein“, sagte die Mutter, „mir ist so recht angst, so recht, als wenn ein schweres Gewitter käme.“ Marlenchen aber saß und weinte und weinte.

   



Da köhm de Vagel anflogen, un as he sik sett't, säd de Vader: „Ach, my is so recht freudig, un de Sünn schynt buten so schöön, my is recht, as schull ik enen olen Bekannten weddersehn.“ „Ne“, säd de Fru, „my is so angst, de Täne klappern my, un dat is my as Führ in den Adern.“

Da kam der Vogel angeflogen, und als er sich setzte, da sagte der Vater: „Ach, mir ist so recht freudig, und die Sonne scheint so schön, mir ist ganz, als sollte ich einen alten Bekannten wiedersehen!“ „Nein“, sagte die Frau, „mir ist angst, die Zähne klappern mir und mir ist, als hätte ich Feuer in den Adern.“

   



Un se reet sik ehr Lyfken up un so mehr, awer Marleenken seet in en Eck un weend, un hadd eeren Platen vör de Ogen, un weend den Platen ganß meßnatt.
Und sie riss sich ihr Kleid auf, um Luft zu kriegen. Aber Marlenchen saß in der Ecke und weinte, und hatte ihre Schürze vor den Augen und weinte die Schürze ganz und gar nass.

   



Do sett't sik de Vagel up den Machandelboom un süng:
„Min Moder, de mi slacht't“, -
Do hüll de Moder de Oren to un kneep de Ogen to, un wull nich sehn un hören, awer dat bruusde ehr in de Oren as de allerstaarkste Storm, un de Ogen brennden ehr un zackden as Blitz.
„Min Vader, de mi att“, -

Da setzte sich der Vogel auf den Machandelbaum und sang:
Meine Mutter die mich schlacht“, -
Da hielt sich die Mutter die Ohren zu und kniff die Augen zu und wollte nicht sehen und hören, aber es brauste ihr in den Ohren wie der allerstärkste Sturm und die Augen brannten und zuckten ihr wie Blitze.
Mein Vater der mich aß“-

   
Fredeswind Märchenschatztruhe

Inhalt Fredeswinds Märchenschatztruhe


"Wir meinen, das Märchen und das Spiel gehöre zur Kindheit: wir Kurzsichtigen! Als ob wir in irgendeinem Lebensalter ohne Märchen und Spiel leben möchten!"

Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844 - 1900)
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Na toll - jetzt, wo die Spannung den Höhepunkt erreicht, machst Du Pause! 023-grrr

Aber wieder wirklich toll erzählt!

Zeigst Du uns bei GeLegenheit mal Bilder von der Mühle? Hast Du die auf die Schnelle improvisiert, oder ist das ein "richtiger" Umbau? Und wie hast Du das Wasserrad gemacht?
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(22.11.2021, 22:08)JTD schrieb: Na toll - jetzt, wo die Spannung den Höhepunkt erreicht, machst Du Pause! 023-grrr

Aber wieder wirklich toll erzählt!

Zeigst Du uns bei GeLegenheit mal Bilder von der Mühle? Hast Du die auf die Schnelle improvisiert, oder ist das ein "richtiger" Umbau? Und wie hast Du das Wasserrad gemacht?

Naja, tut mit leid, musste dann weg.   Rotwerd 

Danke für dein Lob.

Die Mühle war nicht auf die Schnelle improvisiert. Ich zeige gerne mal Bilder von dem Making of.

Aber jetzt geht's erst einmal weiter.

Danke für eure Geduld.

LG von der Märchenfee Fredeswind   fee
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"Wir meinen, das Märchen und das Spiel gehöre zur Kindheit: wir Kurzsichtigen! Als ob wir in irgendeinem Lebensalter ohne Märchen und Spiel leben möchten!"

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