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Fredeswinds Märchenschatztruhe
5. DIE ZITADELLE VON BESANÇON 


Ich hatte dies ‚à la Citadelle‘ keineswegs erwartet, vielmehr von unmittelbarer Freilassung und Unterbringung in einem Hotel geträumt; nichtsdestoweniger erschreckte mich diese Order nicht geradezu… Der Berg war wieder sehr hoch… Auf dem niedrigen, aber breiten Mauerwerk, das den Weg einfasste, streckten sich die dienstfreien Mannschaften der Zitadelle und schliefen in den allewunderlichsten Positionen.

   


...Über eine Zugbrücke hin, mündete der Weg endlich auf einem Vorplatze, den allerhand Bauten unregelmäßig umstanden. An der einen Steinwand... hing ein Brett mit verwaschener Inschrift: Prison militaire (Militärgefängnis).

   


Das sah nicht sehr einladend aus; meine Hoffnungen sanken jetzt rapide, wie das Wetterglas bei Erdbeben. Die Ablieferung erfolgte unter den üblichen Formalitäten, und ein alter Sergeant führte mich an ein langgestrecktes Haus mit fünf Türen, deren Inschriften Prévenius, Disciplnaires und Condamnés lauteten...

   


Nachdem wir in die verschiedenen Türen hineingeguckt, kehrten wir endlich zur ersten zurück, und der Sergeant belehrte mich dahin, dass ich hier zu wohnen haben werde. Es war ein gewölbter Raum von bedeutender Tiefe, in dem damals zwölf Pritschen standen, auf der zwölften befand sich ein Berg von Strohsäcken.

   
Fredeswind Märchenschatztruhe

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"Wir meinen, das Märchen und das Spiel gehöre zur Kindheit: wir Kurzsichtigen! Als ob wir in irgendeinem Lebensalter ohne Märchen und Spiel leben möchten!"

Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844 - 1900)
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...Gefangene gingen im Zimmer auf und ab oder saßen auf den Bettständen umher. Mein Eintreten machte nicht das geringste Aufsehen, man war an solche Erscheinungen gewöhnt. Ich... setzte mich, um mich von der Anstrengung des Bergsteigens zu erholen.

   


Die erste Anfrage, die an mich erging, war: ob ich mich für die ‚Abendsuppe‘ einschreiben lassen wolle, was ich ohne weiteres ablehnte, da ich doch mindestens dieselben Ansprüche wie in Neufchâteau und Langres auch an dieser Stelle glaubte erheben zu können.

   


Ich begab mich denn auch in das Büro des Vorstandes, der den Titel ‚Monsieur le Principal‘ führte, und stellte ihm mein Anliegen vor, das auf ein Zimmer und selbständige Beköstigung lautete. Die sei unmöglich. In einem prison militaire existiere dergleichen nicht. Gut.

   


Ich kehrte auf meinen Bettplatz zurück, kreuzte die Hände überm Knie und starrte ins Blaue, soweit dies an diesem Orte möglich war. Nach einer halben Stunde, auf ein Signal, das mir entgangen war, stürzte alles auf den Hof und kehrte nach zwei Minuten mit der schon erwähnten ‚Abendsuppe‘ zurück, die ich so stolz abgelehnt hatte.

   
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Ich sollte indes nicht zu kurz kommen. Ein junger badischer Gefreiter, mit dem ich mich gleich in den ersten Minuten bekannt gemacht hatte, stellte einen glücklich erworbenen Kübel vor mich hin und forderte mich auf zu kosten. Ich musste es schon artigerweise… Sie war schmackhaft gemacht.

   


Ich aß und nahm von da ab an der allgemeinen Gefangenenkost statt. Sie bestand in einer Fleischsuppe morgens und einem halben Laib Brot. Wein, Käse und die Abendsuppe waren erlaubte Extras, für die aber gezahlt werden musste... Mit einigen Bettgenossen war ich die ganze Zeit über, volle achtzehn Tage, zusammen, andere schieden früher, teils um ihre Freiheit wiederzufinden, teils um in die Kriegsgefangenschaft landeinwärts geführt zu werden.

   


Ich lasse dem deutschen Element, das anfangs ziemlich stark vertreten war den Vortritt. An der Spitze derselben, nicht seinen Jahren, aber allem andern nach, stand der junge badische Gefreite, ‚le caporal badois‘, dessen ich schon erwähnt habe. Wir schlossen eine Freundschaft, soweit dies der Altersunterschied zuließ. Er war aus Pforzheim, eines reichen Fabrikanten Sohn… Ihm war der Auftrag geworden, ganz allein, eine Munitionskanone… herzubeordern; auf dessen Einsamkeitsmarsche war er durch ein Dutzend Fractireurs umstellt und gefangengenommen worden... Wir waren fast vierzehn Tage zusammen und plauderten das Mannigfachste durch...

   


Ein zweiter Deutscher unserer Kolonie führte den Namen: ‚le coucher de Bismarck‘ (der Kutscher von Bismarck). Er trug ein echt prußisches Kutscherkostüm, mit Stulpstiefeln, Waffenknöpfen und breiter Goldborte und war in der Nähe von Epinal, auf Spionage hin verhaftet worden. Eine wunderliche Figur, gutmütig und schlau zugleich; bei Fritzlar im Hessischen zu Hause...

   
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Der dritte, zu dem ich in Beziehung trat, war ‚le maître d‘ecole‘ (der Schulmeister), ein Deutsch-Franzose… Er war, wie so viele andere, denunziert und verhaftet worden, weil er mit einem preußischen Offizier gesprochen hatte. Endlich kam der ersehnte Tag der Freiheit; daheim in Lothringen saß seine Frau mit sechs Kindern. Aber wie hinkommen? 

   


Er fragte mich, ob ich ihm das Reisegeld geben könne. Ich tat es ohne weiteres... Die Kunde von dieser Großtat lieb wie ein Feuer durch die ganze Zitadelle von Besancon: ich war mit einem Schlag ‚etabliert‘; man gab mir ungesucht eine exzeptionelle Stellun und der alte Sergeant… adressierte sich immer mit den Worten an mich: „Un homme comme vous!“ (Ein Mann wie Sie!)…

   

 
Neben dem Schulmeister schlief ‚le bon tireur‘ (der gute Schütze), ein schöner Mann, an dem nur auszusetzen war, dass er es zu sehr wusste... Er war wegen Hochfahrenheit zahllose Male bestraft, und saß jetzt hier, weil er auf den Zuruf seines Kapitäns: „Vous êtes un lâche!“ (Sie sind ein Feigling!) geantwortet hatte: „Pas plus que vous!“ (Nicht mehr als Sie!)… 

   
 

Eine andere Figur war ‚le raconteur‘ (der Erzähler), der Liebling und das Ferment der gesamten Gesellschaft… Er war ein ausgesprochener Humorist und hatte, neben seinem Spaßmachertum, vor allem auch jene Herzensgüte…, die den wirklichen Humoristen allemal charakterisiert. Er erzählte sehr gern… Er hatte ein paar Diensthosen verkauft, um seine Kameraden in Wein freihalten zu können; daraufhin war er, nachdem ihm eben diese Kameraden angezeigt hatten, zu sechs Monaten verurteilt worden... Ich liebte ihn förmlich. 

   


Der letzte von dem ich zu sprechen gedenke, war ‚le penseur libre‘ (der Freidenkende), ein kleiner kratzbürstiger übergewichtiger Herr, nah an die fünfzig, seines Zeichens ‚Kommissionär in Hülsenfrüchten‘. Er war eingesperrt worden, weil er den Preußen eine Ladung Mehl verkauft hatte… Er war Philosoph... Gleich den zweiten Tag fragte er mich, ob es mir recht sei, Senecas Betrachtungen... zu lesen.

   
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Ich versuche nun, nachdem ich dem Leser mit den ‚Spitzen der Gesellschaft‘ bekannt gemacht habe, ihm im weiteren einen Tag zu schildern, wie wir ihn in der Zitadelle zuzubringen pflegten. Um sechs Uhr rasselte draußen das Schlüsselbund, die schwere Tür wurde geöffnet, der Sergeant trat ein und das Abzählen begann, um festzustellen, dass über Nacht nichts von der Herde verloren gegangen sei...

   


Dem Überwerfen der notwendigsten Kleidungsstücke folgte draußen auf dem Hof der Waschprozess; abgetrocknet wurde an den Bettlaken, die von der Nacht her noch etwas Wärme konservierten... Nun begann der Morgenspaziergang, und zwar auf einem mit Flusskieseln bestreuten Hofe, der vierzig Schritt lang und fünfzehn Schritt breit sein mochte...

   


Wie es für etwa achtzig Menschen möglich wurde, auf diesem Stückchen Hof ein oder zwei Stundenlang spazieren zugehen, weiß ich nicht; gleichviel es geschah. Der blaue Himmel, die Morgenfrische taten meinen Sinnen wohl; nur wurde dies Behagen, durch unliebsame Töne aus der Ferne her, häufiger unterbrochen, als es mir angenehm sein konnte.

   


Es war in der Regel sieben Uhr; eine Salve krachte herüber, das Echo antwortete in den Bergen. Eine Gruppe trat zusammen, einer warf den Zigarettenrest in die Luft und sagte ruhig: „Heute werden drei erschossen.“ Ich konnte nicht gleichgültig dabei bleiben; wie ein physischer Schmerz ging es mit oft durch die Brust.

   


Die Promenade wurde fortgesetzt… Zwischen acht und neun hieß es in viertelstündigen Pausen: „à l‘eau!“ (Wasser) , „du pain!“ (Brot), „la commission! (Extras), Schlachtrufe, die jedes Mal ein Dutzend Personen abriefen, die nun Wasser und Brot für die Gesamtheit herbeizuschaffen oder die Extras in Empfang zu nehmen und zu verteilen hatten.

   
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Alle diese Rufe waren aber bedeutungslos neben dem Rufe „à la soupe“ (Suppe), der ungefähr um neuneinhalb Uhr laut wurde. Nun stürzte alles der Küche zu und kam mit Schüsseln und Kübeln zurück, die eine leidlich gute Fleischbrühe enthielten, die einzige warme Mahlzeit, die vorschriftsmäßig und gratis verabreicht wurde...

   


Nach der Suppe begann eigentlich wieder eine mehrstündige Einschließung, die von zehn Uhr früh bis vier Uhr nachmittags zu dauern hatte. Dies wurde aber nie in voller Strenge innegehalten… Ein starker Bruchteil der Gesellschaft zog sich aber von selbst, aus eigenem Antrieb in die Kasemattenräume zurück, um sich zu strecken oder Briefe zu schreiben oder Dame zu spielen.

   


Endlos waren diese Stunden…, sie hatten aber doch, auch ihre Unterbrechungen, einmal, wenn der Kommandant und der Rondenoffizier ihren Umgang hielten, namentlich aber, wenn ‚Neue‘ eintrafen oder die in bloßer Untersuchungshaft Gehaltenen aus dem Verhör in der Stadt zurückkamen. Durch diese Elemente hingen wir mit der Welt zusammen und folgten dem Laufe der Politik und des Krieges.

   


Ob das Berichtete wahr war oder nicht, war der Mehrzahl völlig gleichgültig; es unterhielt doch... So war es Sonntag, den 23.Oktober. Ähnlich an anderen Tagen. Wir lebten von Gerüchten. Erst die ‚Abendsuppe‘, die bei Dunkelwerden serviert wurde, machte regelmäßig der politischen Diskussionen und – dem Tage selbst ein Ende… Die Nacht begann.

   


Nun rasselte, wie am Morgen, das Schlüsselbund; der Sergeant, ein alter grognard (Brummbär), passierte abermals unsere Reihen mit hochgehobener Laterne, zählte die Häupter seiner Lieben und verschwand dann mit einem freundlich-bärbeißigem: „Bon soir, messieurs.“... (Guten Abend, meine Herren.)

   


Um acht Uhr hielten dann mehrere Trommeln und Hörner, eine Art Großer Zapfenstreich, ihren Umgang um die Zitadelle, und in dem Moment, wo sie schwiegen, klangen von Besançon die Abendglocken der Kathedrale herauf… Nacht lag über der Zitadelle von Besançon.
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Hier folgt in meinem Buch das letzte Kapitel des ersten Teils. Diese Kapitel lasse ich außen vor. Bebildern ist da eher unmöglich. Er schreibt selber:

6. RÜCKBLICKE


… Hier versuche ich Eindrücke wiederzugeben, die ich in fast dreiwöchigem Zusammenleben mit französischen Soldaten und Zivilpersonen verschiedenster Art von dem Charakter des Volkes, von den Vorzügen und Schwächen desselben empfangen habe.
Es ist Pflicht, zu sagen, dass diese Eindrücke die allerangenehmsten waren und dass ich mir keine Nation denken kann, die in so vielen ihrer aufs Geratewohl gewählten Repräsentanten imstande wäre, ein günstigeres Urteil hervorzurufen...



ENDE TEIL 1
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Vielen Dank für diesen Einblick in die Vergangenheit! daumen

Ich habe versucht, bei Wikipedia mehr über die Reise zu finden - leider gibt es nur eine bloße Erwähnung in Fontanes Lebensgeschichte.
Aus der Leihbücherei habe ich mich im Moment abgemeldet...

So bleibt mir nur, auf die Fortsetzung mit dem nächsten Buch  zu warten.

Smile
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(13.09.2019, 19:48)Schoko-Queen schrieb: Vielen Dank für diesen Einblick in die Vergangenheit! daumen

Ich habe versucht, bei Wikipedia mehr über die Reise zu finden - leider gibt es nur eine bloße Erwähnung in Fontanes Lebensgeschichte.
Aus der Leihbücherei habe ich mich im Moment abgemeldet...

So bleibt mir nur, auf die Fortsetzung mit dem nächsten Buch  zu warten.

Smile

Gern geschehen!

Ja, du hast ganz recht, ich habe zwar vor ein paar Wochen einen Teil des Textes dieser Geschichte im Internet gefunden und den habe ich jetzt auch nicht mehr finden können. 

Aber ich lass dich nicht lange warten, nachher geht es hier mit Teil 2 weiter.

Viel Spaß weiterhin!

LG von der Märchenfee Fredeswind    fee
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Kriegsgefangen, Erlebtes 1870

(frei nach Theodor Fontane, gekürzte Fassung)


„Comme officier supérieur“

1. VON BESANÇON BIS LYON

Die letzten dreimal vierundzwanzig Stunden meiner Gefangenschaft in Besançon hatten … ein heiteres Kleid getragen als die vorausgehenden Wochen, freundlichere Tage bereiteten sich für mich vor, wenngleich ich, in demselben Moment, in denen sie begonnen, die bis dahin immer noch gehegte Hoffnung auf die Bourgautsche ‚renovoyé dans votre pays‘ zu Grabe tragen musste.

   


Am fünfzehnten Tage meiner Gefangenschaft erschien der Zitadell-Kommandant, mein besonderer Freund und Fürsprecher…, um mir mitzuteilen, dass sich das Kriegsgericht inzwischen von der Wahrheit meiner Aussagen, will also sagen, von meiner vollständigen Unschuld, überzeugt habe.

   


Der General indessen sei nichtsdestoweniger der Ansicht, dass ich als Kriegsgefangener im Lande verbleiben müsse… Schließlich sei ich nicht nur mit vielen preußischen Offizieren bekannt, sondern habe auch ‚militärische Auge‘, denen die Zustände im Lande, die Befestigungen und Truppenbewegungen nicht entgangen sein dürften.

   


Daraufhin sei es unmöglich, mich in meine Heimat zu entlassen; ich würde vielmehr, mit einer Anzahl badischer Gefangener, nach der Insel Oléron im Atlantischen Ozean transportiert werden. So freundlich dies Worte gesprochen wurden, so trafen sie mich doch zunächst sehr hart. Ich hatte mich eben immer noch mit Illusionen getragen.

   


Der Kommandant nahm dies wahr, und gütigen Sinnes fuhr er fort: „Ich bin im Übrigen erfreut, die böse Nachricht… durch eine gute einigermaßen balancieren zu können. Der Kardinal hat sich für Sie verwandt. Infolge dessen werden Sie 'comme officier supérieur' (als höherer Offizier) angesehen und bei Ihrem Eintreffen auf Île d‘Oleron einer relativen Freiheit teilhaftig werden. Sie werden sich auf der Insel ungehindert bewegen dürfen.“
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